Für diese Folge haben wir mit Newroz Duman von der Initiative 19. Februar Hanau über Selbstorganisierung, Erinnerung, Gerechtigkeit und die Forderung nach Aufklärung gesprochen. Die Initiative hat sich anlässlich eines der schlimmsten Terroranschläge der jüngeren deutschen Geschichte gegründet. Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsterrorist 9 Menschen aus rassistischen und antiziganistischen Motiven. Ihre Namen sind:
Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov.
Newroz hat uns erzählt, wie sich die Initiative 19. Februar Hanau nur wenige Tage nach dem Terroranschlag gegründet hat. Viele der Gründer*innen kannten sich schon aus bundesweiten Netzwerken, wie dem Netzwerk Welcome United. Nur drei Tage vor dem Anschlag hatten sie sich in Göttingen mit anderen Gruppen zu einem bundesweiten Netzwerktreffen versammelt. Mit dabei waren NGOs, Flüchtlingsräte, Geflüchteten-Selbstorganisationen, Antira- und Antifa-Gruppen. Viele kannten sich vom Tribunal NSU-Komplex auflösen.
Newroz betont, dass sie in Hanau das gemacht haben, was sie schon seit Jahrzehnten machen: Selbstorganisierung von Betroffenen rassistischer Gewalt, Strukturen aufbauen und sich mit anderen Aktivist*innen und Initiativen vernetzen. Sie konnten so schnell für Überlebende, Angehörige und Freund*innen der Verstorbenen da sein, weil sie aus den Erfahrungen mit dem NSU-Komplex, dem Anschlag in Mölln und der rassistischen Mobilisierung der 1990er Jahren gelernt haben. Die antirassistischen Kämpfe haben gezeigt, wie wichtig es ist, dass die Perspektive der Betroffenen im Mittelpunkt steht, nicht die der Täter*innen. Deshalb war die Initiative vor Ort, hat mit den Menschen an den Tatorten getrauert und die Namen der Verstorbenen laut gesagt, gerufen und geschrien. Sie haben auch schnell einen Ort organisiert, an dem sich alle Betroffenen versammeln, reden, gemeinsam trauern, sich vernetzen und kämpfen können.
Wir haben zurückgeblickt auf das Jahr 2015. In diesem Jahr kamen viele Geflüchtete nach Europa, unter anderem wegen des Bürgerkriegs in Syrien. Viele (extrem-)rechte Akteur*innen hetzten gegen die hilfesuchenden Menschen, organisierten Proteste und riefen zu Gewalt auf. Auch in vielen Medien wurde in rassistischer Weise berichtet. Newroz unterstreicht, dass die gesamte Gesellschaft verantwortlich ist, wenn ein solcher Anschlag wie in Hanau passiert. Ein Anschlag passiert nicht im luftleeren Raum. Es gab viel rechte Hetze gegen Migrant*innen, besonders von der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Aber auch Medien, Politiker*innen, die Sicherheitsbehörden, die gesamte Gesellschaft tragen Verantwortung. Auch aktuell kann man beobachten, wie sich ein Teil der Gesellschaft von Rechten treiben lässt und sich der politische Diskurs so nach rechts verschiebt.
Wir haben gemeinsam mit Newroz zurück geschaut auf Kontinuitäten rechter Gewalt. Newroz erwähnt weitere rechte Attentate, wie die Attentate in Halle und München, den Mord an Walter Lübcke oder der Mordversuch an Bilal M. in Wächtersbach. Wächtersbach ist sehr nah an Hanau. Der Mordversuch fand nur wenige Wochen vor dem Anschlag in Hanau statt. Der Täter hatte seine Tat sogar vorher in einer Kneipe angekündigt. Ähnlich wie der Täter in Hanau.
Newroz betont, dass es ihr ganz besonders wichtig ist, dass, wenn wir über Kontinuitäten rechter Gewalt sprechen, wir uns auch die Kontinuitäten der Widerstände anschauen und dass wir dem Widerstand mehr Raum geben. Beispielsweise gab es 2015 auch viel Solidarität und in den darauf folgenden Jahren riesige Demonstrationen, wie eine Demonstration von Welcome United mit über 30.000 Menschen in Hamburg, die Seebrücken-Demonstrationen in verschiedenen Städten oder die unteilbar-Demonstration in Berlin, an der eine Viertelmillion Menschen teilnahmen. Newroz hätte sich gewünscht, dass es uns als Gesellschaft gelingt die Solidarität hoch zu halten und zu stabilisieren, statt die Hetze gegen die Solidarität ernst zu nehmen.
Wir haben auch wieder nach vorne geschaut und darüber gesprochen, was wir gelernt haben und was Konsequenzen sind, die noch gezogen werden müssen. Newroz erzählt, dass sie es als Initiative geschafft haben, die Namen der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen. Es war ein Novum, dass Nachrichtensendungen mit den Namen der Opfer begonnen haben oder dass für alle klar war, dass man keine Veranstaltung ohne die Perspektive der Betroffenen machen kann. Es kamen auch viele Politiker*innen nach Hanau. Das war für viele Angehörige wichtig, weil es zeigt, dass sie gesehen werden und ihr Verlust anerkannt wird. Dennoch fehlen die Konsequenzen. Es wurden viele Fehler festgestellt. Beispielsweise war der Notausgang an einem der Tatorte verschlossen. Die Überlebenden, die Angehörigen und Unterstützer*innen mussten selbst Forensiker*innen beauftragen, die diesen Fehler untersuchten. Der Täter hat Briefe an Behörden geschickt, durch die klar wurde, dass er unter anderem rassistische Ansichten hatte. Trotzdem wurde ihm sein Waffenschein nicht abgenommen. Zudem hat der Notruf in der Tatnacht nicht funktioniert. Bei keinem dieser Vorfälle gab es keine personellen Konsequenzen.
Die Initiative 19. Februar Hanau kämpft weiter für Gerechtigkeit und Aufklärung. Beispielsweise wurde am 19. September die neue Homepage Kein Abschlussbericht veröffentlicht, die sich mit dem Untersuchungsausschuss in Hanau beschäftigt, Fakten aufbereitet und weiter Aufklärung fordert. Das ist sehr viel Arbeit und oft auch ermüdend. Um durchzuhalten, helfen Solidarität, die Vernetzung mit anderen und wenn Menschen zu den Tatorten kommen. Newroz wünscht sich, dass mehr Menschen erinnern. An jedem 19. des Monats erinnern die Menschen in Hanau an die Ermordeten. Das können Menschen auch an anderen Orten machen.
Projekte
- Homepage der Initiative 19. Februar Hanau.
- Hier geht es zur neuen Website der »Initiative 19. Februar Hanau« zum Untersuchungsausschuss.
- Hier könnt ihr ein kleines Video über die von Newroz erwähnte Ausstellung “Three Doors” im HKW in Berlin anschauen.
- Den Trailer zum Theaterstück „And Now Hanau“ könnt ihr hier anschauen. Es wird im November zum ersten Mal aufgeführt.
- Die Vorankündigung zu einem der von Newroz erwähnten Bücher findet ihr hier. Es erscheint am 11. Januar 2024.
Verweise
- Hier gibt es ein einstündiges Radio-Feature zum Anschlag in Hanau, in dem viele Angehörige zu Wort kommen.
- Wir empfehlen auch den Podcast „190220 – Ein Jahr nach Hanau“.
- Hier könnt ihr mehr über das Netzwerk »welcome united« erfahren.
- Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« ist ein Projekt des gleichnamigen Aktionsbündnisses. „Eine hervorgehobene Stellung haben die Betroffenen des NSU-Terrors, deren Standpunkte ein besonderes Gewicht haben“, schreibt das Bündnis auf seiner Homepage. Hier findet ihr mehr Informationen.
- Jugendliche ohne Grenzen (JOG) ist ein 2005 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von jugendlichen Geflüchteten. Hier findet ihr mehr Informationen.
- In Wächtersbach schießt ein Rassist am 21. Juli 2019 auf Bilal M., der schwer verletzt wird, aber überlebt. Hier findet ihr den Aufruf des Bündnis gegen rechten Terror Hessen am ersten Jahrestag.
- Als NSU-Komplex bezeichnet man die rassistische Mordserie, die der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund (NSU) zwischen 2000 und 2007 beging. Der NSU tötete zehn Menschen, verübte mindestens 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Zum Komplex gehört auch ein immenses Ausmaß an Verwicklungen und Versagen der Sicherheitsbehörden. Statt aufzuklären haben Polizei, Staatsanwaltschaften und Geheimdienste die Angehörigen der Ermordeten über viele Jahre hinweg aus rassistischen Gründen kriminalisiert und schikaniert. Mehr über den NSU-Komplex könnt ihr in der ersten Folge zur extremen Rechten oder bei NSU-Watch nachhören und -lesen.
- In Mölln wurden am 23. November 1992 Ayşe Yılmaz, Yeliz und Bahide Arslan bei einem rassistischen Brandanschlag ermordet. Seit vielen Jahren setzt sich der „Freundeskreis im Gedenken an die rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992“ dafür ein, dass an den Anschlag erinnert wird. Der Freundeskreis hat den politischen Diskurs um Erinnerung an rechte Gewalt stark geprägt. Hier könnt ihr mehr über sie erfahren.
- Mehr über die rassistischen Mobilisierungen in 1990er Jahren und wie diese mit dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau zusammenhängen, könnt ihr in diesem Artikel nachlesen.
- Hier gibt es ein ganzes Heft zum Thema rechte Gewalt in den 1990er Jahren von der Bundeszentrale für politische Bildung.
- Ende August bis Anfang September 2018 kam es zu rassistischen gewalttätigen Ausschreitungen in Chemnitz, bei denen Migrant*innen und Geflüchtete durch die Stadt gejagt wurden. Hier gibt es einen sehr ausführlichen Wikipedia-Artikel über die Ausschreitungen.
- Sevda Dag, Chousein Daitzik, Selcuk Kilic, Guiliano Josef Kollmann, Can Leyla, Janos Roberto Rafael, Armela Segashi, Sabine Sulaj und Dijamant Zabergja wurden am 22. Juli 2016 in München aus rassistischen Motiven ermordet. Lest hier mehr über die Erinnerungsarbeit in München.
- Der CDU-Politiker Walter Lübcke wurde am 1. Juni 2019 von einem Neonazi erschossen. Hier könnt ihr mehr zum Mord und dem Netzwerk lesen, indem sich der Täter aufhielt.