Perspektiven auf und gegen Rechts. Ein Podcast

Der Anschlag von Halle

Der Anschlag von Halle

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In dieser Folge haben wir mit Esther Dischereit über den rechts-terroristischen Anschlag in Halle gesprochen.

Am 9. Oktober 2019 ermordete ein Rechtsterrorist zwei Menschen in Halle. Er hatte versucht an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, schwer bewaffnet in eine Synagoge einzudringen und die dort Versammelten zu töten. In der Synagoge befanden sich zum Tatzeitpunkt 51 Menschen. Aufgrund einer abgeschlossenen Tür gelang es dem Täter nicht, die Synagoge zu betreten. Daraufhin ermordete er Jana L., die sich ihm vor der Synagoge näherte. In einem nahe gelegenen Imbiss tötete er Kevin S. Auf seiner Flucht versuchte er, weitere Menschen zu töten. Seine Motivation war antisemitisch und rassistisch. Wenn ihr mehr zum Anschlag wissen wollt, empfehlen wir euch diese Handreichung.

Esther ist Schriftstellerin und hat das Buch „Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimme der Überlebenden“ herausgegeben. Gemeinsam haben wir zurückgeschaut und darüber gesprochen, wie es zu dem Buch kam, welche Motivation Esther hatte und was der Titel bedeutet. Esther ist nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle nach Magdeburg zum Prozess gegen den Täter gefahren. Sie wollte die verschiedenen Betroffenen bei der Vernetzung unterstützen und als Jüdin im Publikum präsent sein. Während des Prozesses ist Esther dann bewusst geworden, dass es eine Notwendigkeit gibt, die Aussagen der Betroffenen aufzubewahren und ist so zu der Idee gekommen, diese zu Sammeln und ein Buch herauszugeben. Der Titel des Buches beruht auf einer Rede der Rabbinerin Rebecca Blady, die bei dem Anschlag selbst in der Synagoge war. Vor ihrer Aussage, sprach Rebecca Blady mit ihrer Großmutter, die Überlebende der Shoah (hebräische Bezeichnung für den Holocaust) ist. Die Großmutter riet ihrer Enkelin, dass sie keine Angst haben und alles erzählen solle. Das tat Rebecca Blady und nahm sich vor Gericht den Raum, auch über die Erfahrungen ihrer Großmutter im Nazi-Vernichtungslager Auschwitz zu sprechen. Damit zeigt sie die Retraumatisierung der Betroffenen und ihrer Familien auf und hat gleichzeitig auch andere Betroffene ermutigt, sich den Raum vor Gericht zu nehmen und von ihren Erfahrungen zu berichten.

Wir haben aber auch nach vorne geschaut und darüber gesprochen, was wir gelernt haben. Esther betont, dass eine große Solidarisierung zwischen den verschiedenen Betroffenen stattgefunden hat und dass von Antisemitismus Betroffene und von Rassismus Betroffene gleichermaßen mitgedacht werden müssen, wenn man über den Anschlag in Halle spricht. Zudem gab es viele zivilgesellschaftliche Gruppen, die die Betroffenen beim Prozess u. a. mit Kundgebungen solidarisch begleitet haben. Auch gesellschaftlich hat sich etwas verändert: von vielen Medien wurde aufgrund des Wunsches der Betroffenen der Name des Attentäters nicht genannt.

Defizite sieht Esther bei den Sicherheitsbehörden, die häufig nicht wissen, was Rechtsterrorismus und die extreme Rechte überhaupt sind. Esther fordert, dass wenn Menschen, die beispielsweise durch Rassismus, Antisemitismus, Queerfeindlichkeit oder Sozial-Chauvinismus bedroht sind, zu Schaden kommen, immer von einem rechten und auf die Vernichtung dieser Person zielenden Hintergrund ausgegangen werden müsste. Die gesamten Gesellschaft habe immer noch Probleme, zu verstehen, dass sich Terrorismus auf dem Boden rechter Gewalt entwickelt, die zu häufig unwidersprochen bleibt. Das heißt, dass zum Beispiel gesellschaftliche Diskussionen und mediale Berichterstattungen, in denen manche Menschen als weniger wertvoll bezeichnet, ihnen ihre Rechte abgesprochen oder sie durch Begriffe sogar entmenschlicht werden, Gewalt gegen diese Menschen legitimieren.

Wichtig ist Esther die Herstellung von Bündnissen durch alle Betroffenheiten hindurch und die Selbstorganisation von Betroffenen, die sie auch schon an vielen Stellen wachsen sieht. Es gibt viele Orte und Initiativen, an und in denen sich Betroffene selbst organisieren, sich versammeln und über Erfahrungen und Forderungen sprechen. Aber Esther fragt sich, ob es nicht einen Ort geben sollte, an dem alle Namen von Todesopfern rechter Gewalt versammelt sind. Das sollten auch die Namen sein, deren Morde zum Tatzeitpunkt noch nicht als rassistisch benannt wurden. Esther erzählt, dass die Betroffenen aus Halle nach dem Anschlag in Hanau dort hingefahren sind und wünscht sich, dass Menschen an die Orte gehen und die Betroffenen unterstützen.

Projekte

  • Hier erfahrt ihr mehr über Esther.
  • Hier findet ihr das Buch „Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimme der Überlebenden“.
Verweise
  • Der NSU-Prozess war ein Gerichtsprozess gegen fünf Neonazis, die Mitglieder oder Unterstützer*innen des Nationalsozialistischen Untergrunds waren. Mehr Informationen zum NSU-Prozess sowie ausführliche Protokolle der einzelnen Sitzungen findet ihr bei NSU-Watch.
  • Abdul Kerim Şimşek ist Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek. Einen Bericht über seine Rede könnt ihr hier anhören.
  • Burak Bektaş wurde 2012 in Berlin-Neukölln erschossen. Der Täter schoss ohne Vorwarnung auf eine Gruppe Jugendlicher. Die Rede der Mutter von Burak Bektaş könnt ihr hier hören.
  • Hier findet ihr die Folge mit der „Initiative zur Aufklärung des Mordes an Burak Bektaş“ unserer Audioserie zum Neukölln-Komplex.
  • VVN steht für Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e.V.) oder einen regionalen Ableger der Organisation. Hier könnt ihr mehr über den VVN-BdA erfahren.
  • Brandanschlag von Lübeck: 1992 wird ein Haus für Asylsuchende in Lübeck angezündet. Es sterben 10 Menschen. Vier verdächtige Neonazis werden nicht angeklagt. Stattdessen wird gegen Betroffene des Anschlags ermittelt. Mehr dazu findet ihr u.a. hier.
  • Als Wehrhahn-Anschlag wird ein Sprengstoffanschlag bezeichnet, bei dem 2000 am Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn 10 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Ein verdächtiger Neonazi wurde nicht verurteilt. NSU-Watch NRW kritisiert, dass die Ermittlungen nur unzureichend waren. Hier könnt ihr mehr dazu lesen.
  • Als Oktoberfestattentat wird ein rechtsterroristischer Anschlag bezeichnet, der am 26. September 1980 von einem Neonazi begangen wurde. Bei dem Anschlag wurden 13 Menschen getötet und 221 verletzt, 68 davon schwer.
  • Am 19. Dezember 1980 wurden Frida Poeschke und Shlomo Lewin in Erlangen in ihrer Wohnung ermordet. Sie hatten sich für den Austausch zwischen Juden- und Christentum, sowie gegen Faschismus und Antisemitismus engagiert. Verdächtigt wurde damals Karl-Heinz Hoffmann, Gründer der Wehrsportgruppe Hoffmann, eine rechtsterroristische Gruppe, auf deren Mitglieder viele weitere Anschläge und Morde zurückzuführen sind. Hier könnt ihr mehr erfahren.